Nachruf Tiger
er war ein Arbeitspferd, ein Spitzbub und ein bester Freund
Tiere hören unser Herz, wenn es flüstert. Manche Menschen nicht einmal dann, wenn es schreit.
Tiger hatte seine Umwelt jahrelang sehr gut im Blick. Seine Augen streiften durch die Stallgasse, witterten gute Hände, die ihn streicheln wollten und vor anderen wich er zurück. Das alles gehörte zu Tigers Art, mit den Menschen zu kommunizieren. Achtzehn Jahre lang verbrachte Tiger, ein Percheron-Tigerschecke, auf Gut Aiderbichl in Henndorf. Ein glücklicher Zufall hatte sein junges Leben gerettet, und er hätte im Alter von drei Jahren geschlachtet werden sollen.
Michael Aufhauser und einige seiner Mitarbeiter waren im Laufe einer Tierrettung auf den stattlichen Tiger aufmerksam geworden. Eine Reitschule wurde aufgelöst und Gut Aiderbichl wurde der neue Lebensplatz für das letzte Reitschulpferd, das da noch stand. Auch ein Viehhändler hielt vor dem Haus an und wollte Ausschau halten, ob vielleicht noch das ein oder andere Pferd zu haben sei. Im Transporter stand Tiger. Der Mann bezeichnete ihn als „Schlachtpferd erster Klasse“. Verängstigt und total verunsichert schaute der dreijährige Tiger aus dem Transporter. Damals hatte man den Eindruck, dass der Viehhändler so etwas wie Mitleid und Erbarmen für den jungen Percheron empfand. „Ich glaub, da ist einiges schiefgelaufen. Nun soll er sterben, der Tiger!“, bemerkte der Händler so nebenbei.
Wir erfuhren, dass Tiger noch viel zu jung war, als er als Rückepferd eingesetzt wurde. Er war kräftig und gelehrig, doch das Schlimme war sein junges Alter. Die Arbeit als Rückepferd blieb nicht ohne Folgen. Er bekam Knieprobleme, die man mit Hilfe einer Operation beheben hätte können. Der Preis der Operation allerdings hätte den tatsächlichen Wert des jungen Percheron Tiger überstiegen.
Es wäre mehr als ungerecht gewesen, die Fehler der Menschen mit der Schlachtung des Pferdes zu bezahlen. So organisierte Gut Aiderbichl eine Operation am Knie in einer Pferdeklinik und bald stand Tiger in der Hauptstallgasse in Henndorf.
Tiger – immer wieder mussten wir über seinen Namen schmunzeln. Aber das war schon gut so. Stolz, kräftig und erhaben stand er auf der Weide, in der Stallgasse oder am Paddock. Einer seiner besonderen Freunde war Robinson gewesen. Die beiden ehemaligen Rückepferde verband eine tiefe Freundschaft.
Seinen Menschen hat Tiger oft gezeigt, was es heißt, ein Spitzbub in Pferdegestalt zu sein. Leckerlis hat er sofort gewittert, und so lange an den Taschen geknabbert, bis das Leckerli in seinem großen Mund landete. Das hat ihm immer gefallen.
Wenn ihm etwas gar nicht gefiel, drehte er sich starrköpfig in eine andere Richtung. Tigers Körpersprache war immer eindeutig verständlich.
Tigers Arthrosen wurden im Alter schlimmer und auch Hufprobleme machten ihm zu schaffen. Er zog in den A-Stall, dem Altenstall von Gut Aiderbichl Henndorf. Hier konnte er gut versorgt werden und sein Leben soweit es ging, genießen.
Die besten Therapien und Schmerzmittel gegen seine gesundheitlichen Probleme wollten nicht mehr richtig helfen. Tiger war müde, trotzdem hielt er seinen großen Pferdekopf stolz und erhaben hoch.
Vor einigen Wochen mussten wir uns dazu entscheiden: „Wenn der Schmerz nicht mehr zu bändigen ist: macht das Herzchen ein wenig zu und lässt die Vernunft stärker sein. Unsere Tiere dürfen nicht leiden…“ – Michael Aufhausers Satz wurde leider wahr. Ruhig und friedlich ließen wir unseren Großen, unseren Tiger, über die Regenbogenbrücke gehen. Ganz langsam und ruhig. Er wird nun wohl schon drüben angekommen sein.
Manchmal ist die stärkste Verbindung zwischen zwei Wesen die, die nicht in Worten ausgedrückt werden kann.
Lieber Tiger,
wir alle haben versucht, dir ein Leben ohne Druck, ohne Angst und ohne Arbeit zu ermöglichen. Es war schön und lehrreich für uns Menschen, deine Wegbegleiter sein zu dürfen. Für uns warst du ein Fels in der Brandung: ein großer Percheron, eine stattliche Erscheinung und ein bester Freund.
Laufe ohne Schmerzen mit deinem besten Freund Robinson über die Weiden am anderen Ufer weiter. Du bleibst unvergesslich in den Herzen deiner Menschen. Mach’s gut, Tiger.
